Blog 27.1.2017 – Der goldene Hahn – Oper — das Leben der Anderen

von Nikolai Rimski-Korsakow – Axel Kober, Musikalische Leitung – Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf.

Die Inszenierung von Dmitry Bertman kleidet das Stück in ein russisches Gewand mit russischen Klischees und viel Witz und das, finde ich, in sich stimmig. Ab und zu muss ich darüber nachsinnen, wie ich diese Inszenierung aktualisiert hätte anbetracht der weltpolitischen Entwicklung. König Dodon (der Zar) scheint in vielen seiner Äußerungen und Handlungsweisen insbesondere dem Wunsch sein Land gegen Eindringlinge zu verschließen Donald Trump zu entsprechen und andere Rollen Trumps Umfeld, wobei mir schon bewusst ist, dass eine Aktualisierung immer die große Gefahr des plötzlich eben nicht mehr Aktuellen und der Banalisierung mit sich bringt.
Nun, die Inszenierung ist so wie sie ist, und sie ist ja auch gut, weil sie sehr unterhaltsam ist und in ihrer schillernden Buntheit sehenswert. Die glitzernden Kostüme des goldenen Hahns und der Königin der Schemachen reflektieren die funkelnd und farbig instrumentierte Musik. Die vielen vom Libretto vorgegebenen sexuellen Anspielungen hätten etliche deutsche Regisseure durchaus drastischer umgesetzt. Aber die Andeutung und der teils witzige deutsche Text in den Übertiteln lassen Raum für die eigene Phantasie.
Darstellerisch stechen besonders Boris Statsenko (König Dodon) und Renée Morloc (seine Haushälterin Amelfa) durch viel Komik hervor. Genauso aber auch stimmlich, denn sie setzen ihre Stimme ganz im Sinne der Rolle ein. Vom insgesamt sehr gut besetzten Ensemble will ich noch Anna Grechishkina (Königin von Schemacha) nennen, die ihre Partie mit unglaublicher, bezaubernder Leichtigkeit und einem erotischen Flair gestaltet und Cornel Frey (Astrologe), der ebenfalls ungeahnte tenorale Höhen präsentiert. Das alles zusammen mit den Düsseldorfer Symphonikern präsentiert sich in wunderbarer klanglicher Durchsichtigkeit und Klarheit einfühlsam von GMD Axel Kober geleitet.
Das ist ein lohnender Opernabend, der mich rundum begeistert. Schade, dass nur recht wenige diesen Abend erlebt haben. Das sollten Sie unbedingt erleben! In dieser Spielzeit gibt es noch drei Vorstellungen.

Am späteren Abend begegne ich dann dem Leben der Anderen auf der Rückfahrt von Düsseldorf nach Dortmund in den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Gegen Viertel vor Zwölf sitze ich schließlich nach einem Absacker im Euregio (R3) und freue mich auf mein Zuhause. Eine Durchsage verkündet, worüber die Bahn-App leider nicht informiert hat, dass dieser Zug in Gelsenkirchen endet, da die Strecke zwischen Gelsenkirchen und Dortmund gesperrt ist. Das scheint per se nicht verwunderlich, ist aber deutlich nach Mitternacht keine erfreuliche Perspektive. Die allgemeine Begeisterung hält sich in Grenzen. Alles verlässt in Gelsenkirchen den Zug und man sucht den Schienenersatzverkehr, der dann auch bald gefunden wird. Man steigt in den Bus, der schon im Begriff ist loszufahren. Der Busfahrer – eine bedauernswert gequälte Spezies – macht einen wenig ermutigenden Eindruck und winkt mich ungeduldig durch, als ich meine Fahrkarte aus dem Portemonnaie heraussuche: in Castrop müssten wir umsteigen.
Im hinteren Teil des Busses nehme ich Platz. Links vor mir  tobt sich gerade ein junger Mann an seinem Vordersitz aus, als wolle er diesen herausreißen und schimpft vor sich hin. Ich möchte dem Einhalt gebieten, aber eine innere Stimme warnt mich eindringlich, das besser zu lassen. Wer weiß, wie ich aussehen würde, wenn er mich entsprechend behandeln würde. Sein Nachbar versucht ihm klar zu machen, dass es so nicht schneller, sondern eher langsamer vorwärts gehen werde, falls der Bus nämlich wegen ihm stehen bleiben würde. Rechts hinter mir rumort es ebenfalls, die Bahn soll verklagt werden und so weiter. Dann wird es deutlicher: Er wolle sie oder ihn – das verstehe ich nicht genau – fisten. Den Arm hinten reinschieben, den ganzen, erklärt er seinem Nachbarn. (medizinische Anmerkung: der Unterarm sollte genügen – aus anatomischen Gründen – es könnte so oder so gefährlich sein, denn der Darm ist von empfindlicher Natur und für solche Prozeduren nicht wirklich geschaffen.) Ich weiß nicht wer auf diese Art traktiert werden soll, Frau oder Mann – wie gesagt, es ist mit Gefahren verbunden – oder die Bahn? Dann wäre es nicht so gefährlich. Wie auch immer, wir fahren und kommen schon in Wanne-Eickel an. Weitere ramponierte Gestalten bevölkern den Bus. Ich frage mich aufgrund permanenter Verbaldefäkation von allen Seiten, ob mir die Sch… nicht bereits bis zum Halse stehen müsste, wenn diese als braune Materie oraliter exkorporiert werden würde. Herne ist erreicht. Bei einem neuen Fahrgast muss man befürchten, dass aufgrund von vorherigem intensiven Alkoholgenuss tatsächlich etwas aus dem Körperinneren nach außen in den Bus gelangen könnte. Das passiert – dem Himmel oder wem auch immer sei Dank – aber doch nicht, zumindest nicht im Bus.
Ich frage mich, ob der Zustand der Reisenden mit der Geschwindigkeit des Verkehrsmittels korreliert. Also, je langsamer, desto schlimmer? Als man dann irgendwann in Castrop angekommen in die S-Bahn umsteigt, scheint sich meine Hypothese zu bestätigen. Das Publikum scheint deutlich konstruktiver zu sein. Die beiden Bahnverkläger gehen in der Bahn vorüber – sich beklagend und der Bahn Klage androhend, aber sonst nichts weiter. Das ist harmlos. Links hinter mir sitzen nun zwei Studentinnen und ein Student und hier sind die Gespräche gemäßigterer Art. Es geht zum Beispiel um die Einzigartigkeit der bakteriellen Besiedlungen am menschlichen Bauchnabel. Jeder Mensch hat seine ureigenste. Das ist doch toll und gibt auch irgendwie Hoffnung. Bei einem Mann hatte man doch tatsächlich Bakterien aus Japan festgestellt, obwohl er nie in Japan gewesen war. ((medizinische)Anmerkung: nun, wir kommen aus Düsseldorf. Könnte es dort eine Verbindung gegeben haben?) Auch das französische Wort coucher aus der hübschen Phrase Voulez-vous coucher avec moi? wird hier intensiv auf seine Bedeutung hin abgeklopft. Ja, wie ist es denn zu verstehen? …
Gegen ein Uhr vierzig fährt die S-Bahn endlich im Dortmunder Hauptbahnhof ein. Schön, einmal wieder etwas vom Leben der Anderen mitbekommen zu haben. Aber was habe ich an diesem Abend erfahren? Für den Menschen scheinen Körperöffnungen und -vertiefungen von Bedeutung zu sein.
Und was hat das jetzt mit dem goldenen Hahn zu tun? – Nun ja, weitere Geschichten aus Absurdistan …